a board (ein Brett)
Wenn du reist, bewegst du dich mit der Neugier einer sanften Brise, die durch das Land zieht. Dabei begegnest du anderen Gewohnheiten und Worten, welche die Dinge bezeichnen. Ständig verschieben sich sichtbare und unsichtbare Grenzen. Alltag wird zu etwas ungewohntem, an seine Stelle tritt ein ständiges abtasten und umorientieren. Reisen verlangt es, die Dinge die du nicht kennst, dir jedoch bekannt vorkommen, einzuordnen und zu benennen.
Diese Arbeit entspringt einer Auseinandersetzung mit dem Alltag, dem Allgegenwärtigen und deren Wirkung auf dich. Der Frage, wie Ohnmacht entsteht und wie ihr begegnet werden könnte. Was geschieht, wenn du an einem Ort kein Bild siehst, wenn du die Objekte sich selbst überlässt, oder andere Worte für sie verwendest? Was, wenn du den Dingen mehr Zeit schenkst, als sie sich gewohnt sind? Vielleicht lässt sich so beobachten, wie sie sich in eine zuerst fremde Umgebung einfügen, bis sie irgendwann übersehen werden. Dazugehören, und zu einem Wort werden.
Worte kategorisieren und beschreiben Dinge, beispielsweise einen Baum. Spezifischer mögen sie eine gewöhnliche Buche bezeichnen, die andernorts europäische Buche, hierzulande auch Rotbuche genannt wird. Fagus sylvatica. Die Buche erschien bereits in der römischen Literatur, ihr lateinischer Wortstamm stammt aus dem Griechischen, wo phēgós (φηγós) einen fruchttragenden Baum, jedoch auf ein anderes Mitglied aus der Familie der Buchengewächse hinweist, die Eiche. Daraus abgeleitet bedeutet phagein (φαγεῖν) soviel wie essen bzw. die Einnahme einer Mahlzeit.
Wenn die vegetativen Bedingungen passen, behaupten und vermehren sie sich. Aus Steppen werden Wälder, etwa alte Buchenwälder, wie in den Karpaten. Rückblickend sagst du dann, Urwälder.
Die Gattung der Buche bevorzugt ein wintermildes und sommerkühles, feuchtes ozeanisches Klima – wie du, auf manchen deiner Reisen. «Die Buche kommt daher im trockenen Osteuropa mit seinen kalten Wintern nicht vor», und weiter nördlich: «in Dänemark ist sie, nach Moorfunden zu urteilen, erst in der Bronze- oder Eisenzeit eingezogen. (…) Ihre Vegetationslinie beginnt im südlichsten Teil Norwegens, reicht an der schwedischen Ostküste bis Kalmar und durchschneidet fast geradlinig den Kontinent vom Frischen Haff bei Kaliningrad, bis jenseits der Steppen in der Krim.»
Ein Ort nimmt Gestalt an, durch eine Linie, gezogen von der Buche. Doch wie präzise kann eine solche Form sein? In den nördlichen, bergigen Regionen und Alpen Albaniens koexistiert die Buche mit der Traubeneiche und Nadelbäumen wie der Schwarzkiefer, während im Mittelland und dem Kosovo mehrere Eichenarten auftreten, die typisch sind für den Balkan. Darunter die widerstandsfähige Zerr-Eiche, die in trockeneren Böden gut gedeiht, und weiter südlich von der Steineiche abgelöst wird. Quercus. In Griechenland wird die Buche, die noch am thessalischen Olymp und am Pindus häufig auftritt und auch in Atolien nachgewiesen wurde, immer seltner, je mehr man nach Süden vorschreitet.»
Wo immer sich Buchengewächse behaupten, bist auch du, und schöpfst aus ihnen: Harz und Holz als Konstruktions-material, Lauge aus deren Asche, oder Öl aus ihren Nüssen, den Bucheckern. Durch diese Verwendungen bist du mit dem Holz bestens vertraut, kennst ebenso viele Worte dafür. Aufgeschrieben hast du sie, vielleicht auf Buchenrinde. Später wirst du Cellulose, Lignin und Stärke extrahieren, und schliesslich wird aus der Buche ein Buch.
Es scheint naheliegend, dass jenes Wissen und die dafür aufgewendeten Worte gedeihen, wo auch der Baum häufig ist. Die geografische und kulturelle Verortung bestimmter Gruppen könnte in Zusammenhang mit der Distribution der Buche und ihrer sprachlichen Bezeichnung stehen. Anfangs des 20. Jahrhunderts lag für einige Sprachwissenschaftler der Schluss nahe, dass die frühzeitliche Verbreitung der Germanen, ltaliker, Kelten und Griechen sich durch ihre Bekanntschaft mit der Buche festlegen lässt. Damit könnte eine proto-indoeuropäische Heimat in der russischen oder asiatischen Steppe praktisch ausgeschlossen werden.
Diese Folgerung ist Teil des Buchenarguments, einer linguistischen These, welche den Ursprung der indoeuropäischen Sprachgemeinschaft identifizieren will.
Der Buchenbegriff des gemeinsamen Slawischen, sprich die rekonstruierte Grundform der slawischen Sprachen, ist möglicherweise germanischen Ursprungs. Die am besten begründete Herkunft des Slawischen liegt zwar westlich der Bucheninie, in Galizien, Polesien und Bukowina (was soviel heisst wie “durch den Buchenwald charakterisiertes Gebiet“). Die Buche hiess auf Alt-Kirchenslawisch buky, wie buk auf Slowakisch, Tschechisch, Oberlausitzer Sorbisch, Polnisch, Weißrussisch, Ukrainisch und Russisch, bauk auf Polabisch und búka im bulgarischen Dialekt. Die obersorbische Form bukow, fortgesetzt im Mazedonischen mit *bukva, Alt-Kaikavisch als *bükva und Slowenisch als *bûkev, entspringt wahrscheinlich einer ostgermanischen Quelle des *bōkō-Stammes. Das Altnordische *bok weist auf die Buche hin, während das germanische Wort die Rosskastanie miteinbezieht. Ebenfalls mehrdeutig ist *buocha im Althochdeutschen, was neben der Eiche auch Viburnum und Birke bezeichnet. Wie bereits im Griechischen hat eine Bedeutungsänderung stattgefunden, zu vergleichen mit dem Albanischen bungë für Eiche, oder das russische Wort buzina für Holunder.
Wissenschaftlich gelten die Thesen des Buchenarguments grösstenteils als widerlegt, da sich die Buche erst ab 3000 vor unserer Zeitrechnung, in der späten Wärmezeit oder Eichenmischwald-Erlenzeit, ausbreitete. «Selbst wenn wir eine “indoeuropäische Buche“ anerkennen, zeigen Pollenbilder aus dem späten Holozän, dass eine andere Baumart den Kaukasus überspannte, und die Buchengrenze einst weiter östlich bis nach Moskau und zur Don verlief.» Entscheidend ist, dass als die Buche in Europa auftauchte, es dort schon längst keine indogene Sprachgemeinschaft mehr gab.
Die Suche nach einem Keim endet, wie so oft, in einem dynamischen und multifaktoriellen Wirrwarr. Weder in der Natur, noch einer Kultur oder Sprache lässt sich ein einzelner Ursprung ausfindig machen. Vielmehr scheinen die Dinge parallel zu entstehen, gleichzeitig und unabhängig voneinander. Dabei werden sie sich erstaunlich ähnlich, so als wüssten sie voneinander – vom Ding, andernorts.
Da wo du bist, wird ebenso gesprochen, gegessen und getrunken, es wird geträumt, und gebaut, es entstehen Gewohnheiten, es entsteht Alltag. Ein Objekt besteht aus genauso viel vorangegangenen Erkenntnissen wie ein Wort, welches sich aus einer Vielzahl von Lauten, Begriffen und sprachlichen Einflüssen ableitet. Die Etymologie ist deine Herberge, deine Werkstatt der Dinge.
Begleittext zur Videoinstallation im Kunstmuseum Luzern
© Rafael Lippuner, 2024
__________________________________________________________________________________
Quellenverzeichnis
1 übersetzt aus Liddell-Scott-Jones: Greek-English Lexicon, 9/e. Oxford: Clarendon Press (1940), 1646, 1694
2 Brandenstein, Wilhelm: Das Indogermanenproblem. Forschungen und Fortschritte 36. Scherer (Neuauflage 1968), 523-537
3 Schrader, O. & Nehring, A.: Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde, I-ll. Berlin-Leipzig: de Gruyter (1929), 170-71
4 vrgl. Markgraf, Friedrich: Pflanzen aus Albanien, in: Denkschriften der Akademie der Wissenschaften, 102, Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften (1931), 317-360
5 übersetzt aus Mallory, James P., In Search of the Indo-Europeans. Language, Archaeology and Myth.
London: Thames & Hudson (Neuauflage 1992), 115-16
6 zsf. und übersetzt aus Blažek, Václav: The Beech Argument, in: Historical Linguistics, Bd. 115, Heft 2, John Benjamins Publishing Company (2002), 190-196
7 Meid, Wolfgang: Archäologie und Sprachwissenschaft. Kritisches zu neueren Hypothesen der Ausbreitung der Indogermanen. Innsbruck: IBS, Vorträge und kl. Schriften 43 (1989), 16
1
2
3
4
5
6
7
a board (ein Brett), Videostill, 2024
a board (ein Brett), Videostill, 2024
a board (ein Brett), Videostill, 2024
a board (ein Brett), Videostill, 2024
a board (ein Brett). Video mit Ton, 10:54 min, 2024
Gedreht in Kosovo und Albanien. Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Otto Pfeifer.